„Ich rate Reitern, die Augen zu schließen, um ihr Pferd zu spüren und mit ihm zu atmen“, Verity Smith
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„Ich rate Reitern, die Augen zu schließen, um ihr Pferd zu spüren und mit ihm zu atmen“, Verity Smith

Die Geschichte einer Reiterin, die aus einem Handicap eine Stärke machte

Wer bist du, Verity? 


Ich heiße Verity Smith und bin internationale Dressurreiterin. Ich bin in England geboren und besitze die doppelte Staatsbürgerschaft, sowohl die französische als auch die englische, da meine Eltern vor mittlerweile 30 Jahren nach Nîmes gezogen sind. Ich bin seit meinem zwölften Lebensjahr blind. Und seitdem versuche ich, so viele Menschen wie möglich für das Thema körperliche Einschränkung zu sensibilisieren, indem ich beweise, dass wir, wenn wir nur zusammenarbeiten, die Welt verbessern und das Unmögliche möglich machen können. Meine kleine Familie besteht aus Daisy, meiner Stute, und Luna, meiner Hündin. Sie sind meine Weggefährten, ich verlasse sie nie.


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Kannst du uns dein Pferd ein wenig vorstellen? 


Daisy ist 13 Jahre alt und ist 1,73 m groß. Ich habe sie 2018 aus Schweden geholt. Sie hat einen starken Charakter: Damit sie etwas macht, darf ich ihr keine Befehle geben, sondern ich muss sie fragen. Doch sie gibt mir viel, sie ist sehr intelligent. Ich habe eine ganz besondere Beziehung zu ihr, ich arbeite viel mit Berührungen, um ihre Empfindungen zu spüren. Und da Daisy sehr gut verstanden hat, dass ich nicht sehen kann, sucht auch sie immer den Kontakt zu mir. Kurz gesagt, es ist die große Liebe zwischen uns. 


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Kannst du uns mehr über dein Handicap erzählen? 


Als ich fünf Jahre alt war, wurde bei mir eine Enzephalitis festgestellt, die mich für mehrere Monate ins Koma fallen ließ. Ich erwachte ohne erkennbare Langzeitschäden, doch einige Jahre später begann ich, mein Augenlicht zu verlieren. Glücklicherweise erblindete ich nur allmählich, sodass ich mich nach und nach daran gewöhnen konnte. Im Alter von zwölf Jahren war ich völlig blind.


Wie hat die Blindheit dein Leben beeinflusst? 


In diesem Alter war es mein Traum, professionelle Springreiterin zu werden. Ich sprang weiter, bis ich 14 Jahre alt war, und nahm sogar an Turnieren bis 1 m 30 hohen Hindernissen teil, doch ehrlich gesagt war das sehr gefährlich. Ich musste dann schnell aufhören. Doch trotz der Erblindung stand es außer Frage, das Reiten komplett aufzugeben. Ich wollte eine Disziplin finden, in der ich gegen „nicht eingeschränkte“ Reiter:innen auf demselben Niveau antreten konnte. Das war der Zeitpunkt, an dem ich das Dressurreiten entdeckte.


Wie hast du den Wechsel der Disziplinen erlebt?


Es war ein großer Schock. Die Arroganz meines jungen Alters ließ mich glauben, dass ich direkt alles auf Anhieb schaffen würde, dass es einfach wäre. Bis ich Ann Carlen, meine erste Trainerin, kennenlernte. Sie brachte mir einige Techniken bei, die mein Reiten revolutionierten: keine Steigbügel, keine Zügel mehr.

Sie longierte mich und ließ mich über den Sitz galoppieren. Wir haben das monatelang gemacht, es war sehr intensiv. Ann war sehr kreativ, sie zog mir auch Gummibänder um die Handgelenke und ließ mich mit zwei mit Wasser gefüllten Gläsern in der Hand reiten. Das Ziel war es, ganze Trainingseinheiten zu absolvieren, ohne dabei Wasser zu verschütten. Und als ich das geschafft hatte, bekam ich meine Zügel und Steigbügel zurück und wir begannen mit der Arbeit an der Dressur. 



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Welche Techniken hast du angewendet, um die Dressurlektionen zu erlernen, ohne sie zu sehen?


Ich hatte mir noch nie die Dressurlektionen auf diesem Niveau angesehen, da ich als Jugendliche vom Springen besessen war. Zum Beispiel habe ich noch nie in meinem Leben gesehen, wie eine Pirouette aussieht. Also mussten wir andere Methoden finden, damit ich die Lektionen lernte. Zunächst zeichnete Ann Carlen die Lektionen mit dem Finger auf mein Bein, dann sind wir die Lektionen zu Fuß abgelaufen. Anschließend hat sie mich gelehrt, die Durchlässigkeit des Pferdes zu spüren. Sie sagte mir, dass sich mein Pferd beim Reiten anfühlen müsste, als würde ich eine Wendeltreppe hinaufsteigen. Sie hat mich wirklich die Biomechanik des Pferdes gelehrt. Und als kleine Anekdote: Ann hat später ihre Erfahrungen mit mir auch genutzt, um anderen Reitern zu erklären, wie wichtig es ist, im Sattel die Augen zu schließen, um die Bewegungen richtig zu spüren. 


Haben deine Trainer Erfahrung im Training von Blinden? 


Überhaupt nicht. Und das ist es, was ich so mag, mit Trainern zu arbeiten, die noch nie zuvor blinde Reiter trainiert haben. Ganz einfach, weil sie keinen Unterschied machen, sie lassen mir nichts durchgehen und trainieren mich wie jeden anderen Reiter auch. Mein jetziger Trainer, Alain Franqueville, vergisst manchmal sogar, dass ich nicht sehen kann. Manchmal diskutiert er mit mir, wenn ich z. B. die Ecken nicht ausreite. Dann erinnere ich ihn aber daran, dass sie nicht sehen kann, die Ecken. (Sie lacht). 


Wie laufen deine Fahrten zu den Turnieren ab?


Oh, das funktioniert sehr gut. Ich habe den Vorteil, dass ich die Dinge, die mein Pferd am Turnier erschrecken könnten, nicht sehe und dadurch bringe ich es gar nicht erst in Stress. Ich konzentriere mich nur auf mein Pferd und den Moment. Außerdem werde ich dank der FEI systematisch im Viereck begleitet, und zwar von einem Team bestehend aus zehn Leuten, die mir die Buchstaben am Platz zurufen. Und das funktioniert sehr gut. Ich habe ein Team in Schweden, eines in Frankreich und eines in England. 


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Wie fühlt es sich an, wenn du neben sehenden Reitern auf dem Siegertreppchen stehst? 


Ich bin sehr stolz. In diesen Momenten kann ich zeigen, dass mit harter Arbeit und Konzentration alles möglich ist. Das ist ein wahrhaftiges Zeichen für die Inklusion. Und es ist auch eine Möglichkeit, all den Menschen zu danken, die täglich mit mir zusammenarbeiten und mir solche Siege überhaupt erst ermöglichen. Übrigens versuchen andere Reiter oft herauszufinden, wie ich ohne Augenlicht diese Ergebnisse erzielen kann, und ich rate ihnen immer, die Augen zu schließen, um ihr Pferd zu spüren und mit ihm zu atmen. 


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Sind die Olympischen Spiele 2024 ein Traum für dich? 


Ja, natürlich. Da Daisy jedoch verletzt ist, weiß ich nicht, ob ich mit ihr zusammen teilnehmen kann. Es ist wichtig, dass wir im nächsten Jahr wieder stark sind, um eine gute Saison hinzulegen. Ich wäre sehr stolz darauf, mit ihr Frankreich zu vertreten. Ich drücke die Daumen.